Forschung

Calls for Transfer: Projekte zur sozialen und kulturellen Teilhabe

27. Juni 2023
Teil 4 der Serie Calls for Transfer. Innovative Ideen mit soziokulturellem Fokus – von komplexer Sprache über Kinder und Senioren bis zu Geflüchteten

Ein Hamburger Mietvertrag, die Steuererklärung oder ein Antrag auf Feststellung von Kindererziehungszeiten: Die oft kryptische Behördensprache macht vielen Menschen zu schaffen. Umso mehr, wenn es sich um Menschen mit Einschränkungen handelt. Professorin Marina Tropmann-Frick arbeitet deshalb in ihrem Projekt „OPEN-LS – Open Data für Leichte Sprache“ an einer Plattform, die komplexe Texte aus dem Umfeld von Verwaltung und Justiz in leichte Sprache übersetzt. „Sprache hat sich seit Jahrtausenden als Mittel für Kommunikation entwickelt. Daran nicht teilhaben zu können, bedeutet eine deutliche Limitierung“, erklärt die Professorin für Data Science am Department Informatik der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) Hamburg. Ermöglicht wird das Projekt zum Teil durch das Förderprogramm Calls for Transfer (C4T), ein von der Behörde für Wissenschaft, Forschung, Gleichstellung und Bezirke (BWFGB) gefördertes Programm zur Unterstützung von Innovationen aus Hamburger Hochschulen.

Mit KI zu Leichter Sprache

Zur Übersetzung komplexer Texte setzt Tropmann-Frick auf künstliche Intelligenz. „Wir entwickeln ein passgenaues Tool, fangen dabei aber nicht bei Null an, sondern orientieren uns an bekannten Sprachmodellierungsalgorithmen, wie Chat GPT oder Bard.“ Aktuell arbeitet das Projektteam an dem Datensatz, mit dem ihr Algorithmus trainiert werden soll. „Es geht ja nicht nur um die reine Übersetzung in leichte Sprache, das Ergebnis muss auch möglichst rechtssicher sein. Und dank der C4T-Förderung konnten wir nun einen Juristen ins Team holen“, betont sich Tropmann-Frick.

Musik gegen soziale Isolation

Um kulturelle und soziale Teilhabe geht es auch beim innovativen Kulturangebot MusikTiPP, einem Folgeprojekt der „Interaktiven Konzerte gegen soziale Isolation“. „Wir haben die interaktiven Konzerte 2020 entwickelt, um die in Hamburger Seniorenresidenzen während des Lockdowns isolierten Menschen durch Musik und Gespräche mit jungen Menschen am Leben teilhaben zu lassen“, erklärt Martina Kurth, Professorin an der Hochschule für Musik und Theater (HfMT). Die Konzerte und Gespräche im digitalen Raum ermöglichten es den Senior:innen ihren oft von Ängsten und Unsicherheiten geprägten Alltag auszublenden und in eine andere Welt einzutauchen. Das Projekt war so erfolgreich, dass ein Team HfMT-Studierender die App MusikTiPP entwickelt hat. Über ein Tablet können Senior:innen an Konzerten teilhaben sowie Inhalte zu Musik oder dem Leben der jungen Künstler:innen abrufen.

Prof. Marina Tropmann-Frick, Projekt „OPEN-LS"

Innovatives Kulturangebot bald bundesweit?

MusikTiPP habe sich als wertvolle Bereicherung der Kultur- und Betreuungsangebote in Seniorenresidenzen erwiesen. Nennenswerte digitale Hürden gab es dabei nicht, betont Kurth. Das C4T-Projekt „Identifikation von Gelingensbedingungen für den Einsatz von MusikTiPP in Senioreneinrichtungen“ soll nun dazu beitragen, die App bundesweit zur Verfügung zu stellen. „Wir gehen Fragen nach wie: Welche Voraussetzungen müssen in Senioreneinrichtungen vorhanden sein, um die Implementierung von MusikTiPP erfolgreich zu gestalten? Wir untersuchen dazu etwaige Barrieren, aber auch die Rolle der Mitarbeitenden und Bewohner:innen“, erklärt Kurth. Und schließlich wird im Projekt die Frage der Finanzierung thematisiert und mögliche Sponsoren- und/oder Patenschaftskonzepte geprüft, die zudem einen zusätzlichen sozialen Aspekt hätten. „Viele Senior:innen waren während des Lockdowns ganz gerührt, dass ihnen Konzerte geschenkt wurden. Und so hoffen wir, im Herbst einen Sponsor für unser Projekt zu finden.“

Projekt MusikTiPP

Interreligiöse Gemeindestudie Hamburg

Mit dem gesellschaftlichen Zusammenhalt in einer zunehmend pluralen Gesellschaft beschäftigt sich das C4T-Projekt „Interreligiöse Gemeindestudie Hamburg“. „Hamburg ist mit mehr als 110 unterschiedlichen Religionsgemeinschaften und deren mehr als 600 lokalen religiösen Gemeinden und Gruppierungen eine hochgradig religiös plurale Stadt und gleichzeitig mit einem wachsenden Bevölkerungsanteil ohne Religionszugehörigkeit eine mehrheitlich säkulare Stadt“, erläutert Dr. Anna Körs, wissenschaftliche Geschäftsführerin der Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg. „Diese beiden Pluralismen erfordern Prozesse der Verständigung, Übersetzung und Aushandlung sowohl zwischen den Religionen als auch mit der säkularen und ihrerseits pluralen Mehrheitsgesellschaft“, betont die promovierte Soziologin.

Dr. Anna Körs forscht zur Vielfalt Hamburger Gemeinden

Engagement über die Gemeinde hinaus

Dabei haben gerade die zahlreichen religiösen Gemeinden vor Ort – so die Annahme der Projektverantwortlichen – ein großes und in der Forschung bisher wenig beachtetes Potenzial, zum gesellschaftlichen Zusammenhalt beizutragen. In Gemeinden kommen Menschen zusammen, um ihren Glauben auszuüben und sich in vielfältiger Weise zu engagieren – sowohl innerhalb der eigenen Gemeinde als auch darüber hinaus im städtischen Sozialraum. Jedoch gibt es kaum empirische Kenntnisse über die Aktivitäten und Situation von lokalen Gemeinden. Das Projekt will die Vielfalt der Hamburger Gemeinden ins Blickfeld heben und dazu in Kooperation mit dem „Research Office for Social Innovation“ (ROSI) der Universität Hamburg eine sowohl quantitative als auch qualitative Datenerhebung durchführen. „Das Ziel des Projekts ist es, mit der Hamburger Pilotstudie innovative wissenschaftliche und zugleich gesellschaftsrelevante Erkenntnisse zu generieren, die zum Aufbau einer interreligiösen Gemeindeforschung in Deutschland dienen und auch einen praktischen Nutzen für das Zusammenleben in einer multireligiösen säkularen Stadt wie Hamburg haben können“, so Körs.

Gesundheit ukrainischer Frauen im Fokus

Um eine qualitative Datenerhebung geht es auch beim Projekt „Ukraine Refugee Health – Women“. Ziel ist es, die psychische Gesundheit aus der Ukraine geflüchteter Frauen zu verbessern. „Wir haben bereits eine quantitative Datenlage durch unser Vorgänger-Projekt, in dem gut 300 aus der Ukraine geflüchtete Menschen befragt wurden. In unserem C4T-Projekt konzentrieren wir uns nun speziell auf Frauen“, erklärt Johanna Buchcik, Professorin für Gesundheitsverhalten und Diversity an der HAW Hamburg. Geplant sind Interviews mit geflüchteten Ukrainerinnen über 18 Jahren, um einen klareren Eindruck ihrer Situation zu gewinnen. „Zu erwarten sind Probleme, die sich aus der Mangelsituation Geflüchteter ergeben, wie fehlende Rückzugsorte, Arbeits- und Schulmöglichkeiten. Wahrscheinlich sind zudem psychische Belastungen, die sich durch den Verlust der Heimat und das Zurücklassen von Familienmitgliedern ergeben. Darüber hinaus könnte es Berichte von verbaler oder auch physischer Gewalt geben“, erläutert Buchcik, die bereits praktische Erfahrungen in der Gesundheitsförderung geflüchteter Frauen, etwa aus Syrien oder Afghanistan, mitbringt. Die Erkenntnisse aus den Interviews fließen ein in die Konzeption einer Podcast-Reihe, die niedrigschwellig Hilfestellung bieten soll und durch Psychotherapeut:innen begleitet werden wird.

Johanna Buchcik, Professorin für Gesundheitsverhalten und Diversity an der HAW Hamburg

Mathe-Skills im Test

Je früher eine Rechenschwäche erkannt wird, desto besser. Doch eine rechtzeitige Erfassung schon im Kindergartenalter ist nicht einfach – schon gar nicht bei Kindern, die aufgrund einer Hörbehinderung gebärdensprachlich kommunizieren. „Sprache ist für mathematische Lernprozesse fundamental. Folglich ist es wichtig, dass die Kompetenzen von tauben und hörbehinderten Kindern in der Sprache getestet werden, in der sie vornehmlich kommunizieren“, weiß Barbara Hänel-Faulhaber, Professorin für Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg und Leiterin des Deafness, Language and Learning Labs.

Bisher existiert jedoch kein gebärdensprachliches Diagnostikinstrument. Und das soll das Projekt Sign4Inclusion (Math) ändern. Ziel ist die webbasierte Aufbereitung eines in Deutsche Gebärdensprache (DGS) übersetzten Tests zur Evaluation mathematischer Basiskompetenzen bei tauben und hörbehinderten Kindern.

Prof. Hänel-Faulhaber, Projekt „Sign4Inclusion“

Neues Instrument für Pädagogen

Gebärdensprachen als visuelle Sprachen nutzen den Raum aus, um sprachliche Bezüge herzustellen. Zahlen werden direkt mittels der Hände dargestellt. Eine Diagnostik in DGS, die mathematische Basiskompetenzen erfassen möchte, muss deshalb besonders kontrolliert sein, damit die sprachliche Aufbereitung in DGS nicht die Aufgabenformate vereinfacht oder erschwert, erklärt der Mathematikdidaktiker und Gebärdensprachpädagoge Viktor Werner, der an der Universität Hamburg die mathematischen Basiskompetenzen tauber und hörbehinderter Kinder beim Schuleintritt untersucht. Mit der DGS-Übersetzung bekommen pädagogische Fachkräfte erstmals ein Instrument an die Hand, das es ihnen ermöglicht, die mathematischen Basiskompetenzen tauber Kindergarten- und Vorschulkinder individuell zu erfassen und entsprechende Fördermaßnahmen zu ergreifen.
ys/sb

Lesen Sie dazu auch unsere bisherigen Serienteile:

1. Calls for Transfer: Mini-Implantate für die Krebsdiagnostik

2. Calls for Transfer: Chemisches Recycling für die Kreislaufwirtschaft

3. Calls for Transfer: Energiewende wissenschaftlich absichern

 

 

Mathematikdidaktiker und Gebärdensprachpädagoge Viktor Werner

Quellen und weitere Informationen

Calls for Transfer

Das von der Behörde für Wissenschaft, Forschung, Gleichstellung und Bezirke (BWFGB) der Freien und Hansestadt Hamburg finanzierte Förderprogramm ‚Calls for Transfer‘ befindet sich in Trägerschaft der Technischen Universität Hamburg (TUHH). Das Projekt wird von Hamburg Innovation aktiv umgesetzt und koordiniert, wobei das Gremium unabhängig entscheidet.

Die Hamburg Innovation GmbH ist eine privatwirtschaftlich organisierte Wissens- und Technologie-Transfereinrichtung der staatlichen Hamburger Hochschulen. An der Schnittstelle zwischen Hochschulen, Unternehmen und öffentlicher Hand ist das Team mit dem Ziel aktiv, unternehmerisches und wissenschaftliches Potenzial gewinnbringend zu vernetzen und nachhaltig Werte für Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu schaffen.

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